Mindset

Das Introvertierchen

Es gibt ja gefühlt unendlich viele Ratgeber darüber, wie man den inneren Schweinehund besiegt. Doch man stelle sich mal vor, wie dieser arme Tropf dann K.O. gegangen ist und völlig erledigt auf der imaginären Matte liegt. Da könnte man schon mal Mitleid haben! Und eine friedliche Co-Existenz, bei der jeder mal im Wechsel das Sagen hat, wäre doch auch viel entspannter. Statt Dauerschuften also eher ein Kompromiss – erst eine Runde durch den Wald joggen, dann gemütlich aufs Sofa und die Nase in ein Buch stecken. Am besten eines, das einfach nur unterhält, ganz ohne Selbst- oder Weltverbesserungs-Ratschläge.

Bei all dem Trubel um den inneren Schweinehund kommt ein anderer Mitbewohner meist viel zu wenig Aufmerksamkeit. Der ist halt auch nicht der Typ, der gerne und ständig im Mittelpunkt stehen möchte. Dabei sollten wir uns um unser Introvertierchen mindestens genauso kümmern, eher noch mehr. Das ist nämlich oft viel zu zaghaft und leise, wenn es eigentlich unsere volle Aufmerksamkeit bräuchte. Dabei täte ihm etwas mehr Egoismus gut!

Ich bin ja kein großer Fan von Persönlichkeitstest und Schubladen, in die Menschen nach ihren Charaktereigenschaften eingeordnet werden – auch wenn ich es sonst ja ganz gerne ordentlich und aufgeräumt mag. Nur dieses entweder-oder empfinde ich als extrem einschränkend. Warum kann man nicht einfach mal so und dann wieder anders sein?!

Je nach Situation und persönlicher Laune können die Ausprägungen unserer Big Five ganz unterschiedlich ausfallen. Gerade im Bezug auf Extraversion würde ich eher von einem sehr variablen Schieberegler sprechen, der mitunter auch von Tageszeit und –Form abhängt. Genauso, wie meine Verträglichkeit sehr von der Leere meines Magens abhängen kann. Aber wie gesagt, solchen Persönlichkeitsanalysen begegne ich eh mit einer gesunden Skepsis.

Nicht jede introvertierte Person ist ein vereinsamter Misanthrop. Nur weil ich hin und wieder mal für mich alleine sein will und die absolute Ruhe genieße, hasse ich keine Menschen (nur die dummen, die kann ich nicht leiden). Nach einem kommunikativen Arbeitstag oder gesellschaftlichen Aktivitäten habe ich allerdings schon mal das Gefühl, dass mein Kontingent an Wörtern für den Tag aufgebraucht ist und auch die Speicherkapazität der geistigen  Festplatte stößt irgendwann einfach an ihre Grenzen.

Es soll ja Menschen geben, die alleine zu Hause erst mal den Fernseher einschalten oder das Radio laufen lassen, um ein gewissen Hintergrundrauschen zu erzeugen. Manche arbeiten auch gerne mit musikalischer Untermalung im Ohr. Bei mir herrscht absolute Ruhe – mal abgesehen von den wenigen Außengeräuschen, die zusammen mit Vogelgezwitscher und Hühnergackern aber von der häuslichen Stille übertönt werden. Ich bin ja großraumbüroerprobt, da blendet man sowas geübt aus – den eigenen Ehemann leider unabsichtlich auch manchmal…

Gerade diese Ruhe ohne ständige Ablenkung und äußere Beschallung hilft dem Introvertierchen, die Batterien wieder aufzuladen. Das genießt nämlich die eigene Gesellschaft sehr und kommt wunderbar auch mal alleine klar. Da, wo sonst niemand ist, fühlt es sich nicht einsam sondern ins Paradies versetzt. Man muss nur aufpassen, dass es sich seine Komfortzone nicht zu gemütlich einrichtet. Viele inspirierende und spannende Erlebnisse verdanke ich dem bewussten Verstellen des Schiebereglers in Richtung Extro.

Es gibt aber kein „ich arbeite an mir“ um irgendwie besser, anders, sonst wie zu werden. Es ist mehr ein tägliches Lernen und Sammeln von Erfahrungen – ganz weit weg von Selbstfindungs- und Selbstoptimierungs-Ratgebern. Dafür wäre ich auch viel zu faul und zu beratungsresistent!

Und so pflege ich also neben einem nachsichtigen Verhältnis zum inneren Schweinehund auch ein liebevolles Verhältnis zu meinem Introvertierchen. Kling sonderlich und ein wenig schräg? – Keine Sorge, wir sind viele 😉

41 thoughts on “Das Introvertierchen

  1. Oh ja … Zeit und Ruhe für sich selbst zu haben, muss genossen werden.
    Ich kann gut Zeit mit mir alleine verbringen.
    Aber Nachts bin ich nicht so gerne alleine.

  2. Das Wort Introvertierchen kannte ich noch nicht. Passt!

    „Genauso, wie meine Verträglichkeit sehr von der Leere meines Magens abhängen kann.“ Dafür habe ich neulich das schöne Wort hangry gelernt. Ich habe/bin schnell hangry, wenn eine Mahlzeit 30 Minuten über der Zeit ist.

    „Man muss nur aufpassen, dass es sich seine Komfortzone nicht zu gemütlich einrichtet.“ Leider, denn sie ist extrem schön. Tut nur nicht immer so gut, wie man eigentlich denkt. Aber sie ist nur einen Hauch so schädlich, wie Extrovertierchen propagieren.

    Sonderliche Grüße sendet Dir
    Ines

    1. Ist alles eine Frage der Dosis – wie so oft. Ein bisschen Komfortzone ist fein und läd die Akkus auf. Zuviel ist doof, dann fehlt mir auch neuer Input. In der Regel balanciert sich das aber von selbst ganz gut aus.
      Liebe sonderliche Grüße 😂

  3. Süß, das Introvertierchen. Kenne ich auch gut, wenn auch noch nicht unter diesem Namen. Zu meinen inneren Haustieren gehört neben dem inneren Schweinehund auch noch ein Gewohnheitstierchen. Und allen tut eine artgerechte Haltung gut.

  4. Viel zu faul und beratungsresistent – das ist ehrlich und mir sehr sympathisch.. ☺️ Die wenigsten geben das zu. Ich brauche nach Einladungen oder dem Praxisalltag auch Zeit, in der mich niemand anspricht um meine Batterien zu laden. Da kuschelt sich der Schweinehund genüsslich an das Introvertierchen.
    Das hast Du schön geschrieben Vanessa. Ich wünsche Dir einen schönen Dienstag, liebe Grüße Tina

    1. Die beiden scheinen wie geschaffen füreinander 😊. Wobei das Introvertierchen den Schweinehund auch schon mal vom Sofa schubst, wenn es in den Wald will – der hat kein leichtes Leben hier.
      Liebe Grüße und einen schönen Dienstag!

  5. Ich mag Schubladen auch nicht besonders, aber ich war mal bei einer Freundin zu Besuch, die hatte sogar auf dem Klo Musik laufen (Soundsystem in der ganzen Wohnung), außerdem kamen ständig Leute unangemeldet zur Tür herein – und nachts wollten auch noch die Katzen aufs Bett (oder raus, oder was auch immer)… ich bin schier durchgedreht, ein traumatisches Erlebnis. Wie Folter. Hab sogar irgendwann heimlich geweint, ohne Witz. Da hab ich gemerkt, oh doch, es gibt schon eine klare Tendenz. Zumindest gibt es Extrovertierchen, die die Introvertierchen nicht verstehen, sie verstehen deren Bedürfnisse nicht. Und wir wollen ja schließlich auch nicht rumjammern! Ich hab/hatte Kolleginnen, die alles drei-viermal erzählen und ausschmücken müssen, so dass man das Gefühl hat, sich ganz viele Infos merken zu müssen – aber das meiste ist ja nur Wiederholung und heiße Luft. Die denken dann, ich bin unfreundlich, wenn ich da protestiere, weil das mein Hirn überstrapaziert (und ich „nebenher“ ja auch noch einen Job habe!).
    Ich glaube nach wie vor, dass Introvertierchen (was für ein süßes Wort!) VIEL MEHR zu leiden haben (klar, meine Nachbarin feiert gerne laut, ich tu das nicht, wer leidet jetzt wohl, weil er nicht schlafen kann?). Ich danke dir, dass du Introvertierchen und Schweinehund voneinander abgegrenzt hast, denn die haben nix miteinander zu tun. der Unterschied ist nur, dass Extrovertierchen jedem, der nicht bei 3 aufm Baum ist, von ihrem Schweinehund erzählen und rumjammern müssen… in der Zeit haben wir den längst besiegt und sind im Wald joggen/Fahrradfahren o.ä.
    Das Introvertierchen muss und sollte aber gehegt und gepflegt werden (weil man auf Verständnis ja wenig hoffen kann!) Und jeder, der mit seinem Introvertierchen glücklich lebt, braucht an diesem Dasein eh nix ändern (nur weil andere es nerdig finden, schon dreimal nicht!). ;-))))
    Bin ich jetzt vom Thema weg? Sorry. Fand deinen Text sehr erfrischend!
    Liebe Grüße, Maren

    1. Danke für deinen Kommentar liebe Maren!
      Musik auf dem Klo ist doch auch irgendwie nerdig 😂. Wobei ein Nachbar da eine „Birdbox“ hat, da denkt man dann, man steht im Wald. Mein Mann war gelinde gesagt irritiert über das Gezwitscher auf dem sonst so stillen Örtchen. Das höre ich mir dann doch auch lieber im Wald an, während alle Extrovertierchen noch mit ihrem Schweinehund kämpfen 😉
      Liebe Grüße!

  6. Das Introvertierchen sollte man schon pflegen. Man muss es ja nicht gleich übertreiben und zum Einsiedler werden. Manchmal tut Ruhe sehr gut.

    Ich bin zwar gern unter Menschen, kann aber gut mal alleine sein. Da muss ich noch nicht mal den inneren Schweinehund überwinden 🙂

    Liebe Grüße
    Sabine

  7. hast du das niedliche taschenkrebschen geknipst?
    offensichtlich brauchen die meisten menschen konkrete schubladen für ihre artgenossen….. das geht soweit, dass mich ein teilnehmer einer langlaufski-reise (riesengebirge – da gabs noch schnee!) 3 wochen später auf der geburtstagsparty einer teilnehmerin absolut nicht erkannt hat…… das party-glamourgirl kriegte er nicht mit dem robusten skihasi zusammen :-DDD
    ich liebe die waldeinsamkeit des BWH (grad herrlichstes piepmatz-konzert) – und doch mische ich mich gern unter menschen – die sollten allerdings ein gewisses niveau nicht unterschreiten………
    xxx

    1. Ja, das Taschenkrebschen hat sich tatsächlich ganz schüchtern aus seinem Häuschen getraut. Dafür musste ich nicht mal lange warten, nur ganz ruhig sein. Dann laufen sie einem auch über die Hand, was sich ganz lustig anfühlt.
      Ich muss zugeben, dass mir es bei manchen Menschen ohne Kontext auch schwer fällt, sie wiederzuerkennen. Hat ja aber auch Vorteile. Diejenigen, die ihr Gesicht sonst in die Öffentlichkeit hängen, können sich so auch inkognito Alltäglichem nachgehen. Wobei ich nach einer gemeinsamen Reise schon noch im Kopf den Sprung von Tauchanzug zu Arztkittel schaffe – und ebenso nach einer Gruppenreise die Ruhe umso mehr brauche. Mittlerweile haben wir das ganz eingestellt da uns beide die ständige Dauerkommunikation zu viel ist. Da sitzen wir lieber auf einem einsamen Balkon mit einem Gläschen Wein und genießen die traute Schweigsamkeit, äh Zweisamkeit 😉
      Liebe Grüße!

  8. Ich nenne solche Momente übersozialisiert. Früher (vor den Kindern) gehörte ich zu den Fernseh-Musikanschaltern. Heute (auch wenn die Kinder jetzt groß sind) genieße ich gern die Stille und stelle fest, dass ich diese Ruhe auch sehr oft für mich brauche.
    Und du hast recht: Es hat auch mit Tagesformen zu tun.
    Nicht essen macht mich allerdings nicht übellaunig;). Auch wenn ich es für mein Leben gerne tue.
    Manchmal denke ich, dass Introvertierchen und Schweinehund ein gentlenmens agreement haben;)-

    Liebe Grüße
    Nicole

    1. Kommt ganz auf den Hunger an – wenn ich in irgendwas versunken bin, kann ich das mit dem Essen auch mal vergessen. Aber gutes Essen macht dafür umso bessere Laune 😋
      Liebe Grüße
      Vanessa

  9. Bei mir ist das auch tagesabhängig, manche Tage sprühe vor Energie – da mache ich dann auch Sachen die schon ewig liegen geblieben sind. Und an anderen Tagen kann ich mich nicht durchringen und lasse die Faulheit siegen. LG Romy

  10. Ich liebe es alleine im Wald oder auch auf unserem Campingplatz (alleine geht da tatsächlich auch, da Verein, und nicht dicht auf dicht) zu sein. Während der Woche morgens auf dem Campingplatz ist so wunderbar, wach werden mit Vogelgezwitscher und dem Introvertierchen 😊
    Liebe Grüße

    1. Oh, das klingt wunderbar. Wobei ich mich gar nicht beschweren kann – ich muss nicht mal auf den Campingplatz, um morgens den Vögeln zu lauschen. Aber sich mal Zeit nehmen, um das alles auf sich wirken zu lassen – das muss man aktiv machen. Früh morgens vor der Arbeit ist die Welt auch noch so friedlich 😊
      Liebe Grüße!

  11. Ach, der Schweinehund. Der kriegt viel zu viel Aufmerksamkeit… Wenn mir nach X ist, dann mach ich X. Ob irgendein Hund dazu was zu sagen hat, ist mir dann wirklich hundsegal. Genauso wie ich mein Introvertierten gerne mal pflege, wenn ich das brauche. Genauso wie ich gern unter Menschen bin. Nur eben nicht ständig und ausschließlich. Die gesunde Mischung macht’s. Und statt der Schublade nehm ich dann einfach gern den ganzen Schrank. Da ist es dann auch nicht so eng 🙂
    Liebe Grüße
    Fran

    1. Das ist gut – ein ganzer großer Schrank 😃. Mit all den Looks und unterschiedlichen Styles, die ein bunt gefüllter Schrank so her gibt. Mit der Analogie im Kopf freue ich mich fast schon auf potenzielle Trainer mit ihren Persönlichkeitstests 😈
      Liebe Grüße
      Vanessa

  12. Ich denke, es ist ganz normal, wenn Menschen, die viel kommunizieren müssen, einfach auch mal für Stille dankbar sind. Hinzu kommt m.E. dass bei eine beruflich notwendige Unterscheidung von wichtigen und unwichtigen Fakten, schnell auch auf das private Umfeld übergreifen kann. Das kann zu einer vermeintlichen „Ungeselligkeit“ führen, wenn man sich nicht gerade für die Geschehnisse in der Nachbarschaft interessiert. Der Vorteil der Introvertierchens: Es kennt keine Langeweile 🙂

  13. Da erkenne ich mich auch absolut wieder. Ich bin gerne unter Leuten, hab Spaß und Freude am Austausch. Aber manchmal muss ich auch ganz für mich sein und mich am besten auch von der Außenwelt abschotten. Es sind einfach zu viele Reize, die heute auf einen einprasseln. Man ist nicht jeden Tag diesselbe, das stimmt absolut.
    Liebe Grüße
    Britta

    1. Diese dauerhafte Reizüberflutung ist echt ein Problem. Mir ist das alles auch manchmal einfach zu viel während andere absolute Ruhe dann gar nicht mehr kennen und aushalten können. Aktuell könnte ich aber mal wieder ein paar mehr Reize bzw. einen Tapetenwechsel gebrauchen – wird Zeit für Urlaub!

  14. Ich mag das. Man kann beides sein, mal mehr das und mal mehr das. Bei mir ist es auch stark von Situationen und Gefühlslagen abhängig, ob ich gerade eher ein Introvertierchen bin oder nicht. Und Egoismus fällt sowieso schwer, obwohl man das ruhig auch ab und an mal sein sollte.

  15. Liebe Queen All!
    Ich selbst würde mich als introvertierte Extrovertierte bezeichnen. Ich bin zwar gern unter Menschen, brauche dann aber mindestens zwei Tage für mich, um meine sozialen Akkus wieder aufzuladen. Menschenmassen sind mir ein Graus, da bin ich schnell mit der ganzen Reizüberflutung überfordert. Deinen Text fühle ich also sehr und bei der Passage mit dem „Ehemann ausblenden“ musste ich doch mal herzlich lachen.
    GLG
    Miriam

    1. Liebe Miriam,
      ja, der Ehemann hat´s nicht leicht 😄. Wobei der ebenso Großraumbüro-geschädigt ist aber nach einem Tag alleine im Homeoffice manchmal echt redebedürftig. Akkus aufladen funktioniert aber zu Glück super in gegenseitiger Gesellschaft. Und wenn ich doch mal meine Ruhe brauche, kann ich ihn vor der Playstation abgeben, das ist ein Segen!
      Liebe Grüße
      Queen All

  16. Hey,
    sonderlich klingt es für mich nicht :).
    Allerdings zähle ich mich eher zu extrovertiert. Ab und zu meide ich allerdings auch das Gegenteil. Das ist jedoch sehr selten.

  17. Mein Inovertierchen und mein innerer Schweinehund geben sich manchmal heimlich High Five.
    Dann bin ich verloren.
    Besser ist es, die beiden Racker mit Humor zu locken.
    LG
    Sabiene

    1. Wobei manche Routinearbeit mit Musik noch besser von der Hand geht. Beim Malern bekommt man richtig Schwung – beim Kartoffeln schälen mit einem scharfen Messer ist die musikalische Untermalung zur Sicherheit etwas ruhiger 😉
      LG
      Vanessa

  18. Selbst dem Introvertierchen wird es mal langweilig, wenn man es keinen Input mehr kriegt – weiß ich aus eigener Erfahrung 😌
    Schöner Beitrag, ich konnte mich darin Wiederfinden.
    Liebe Grüße, Anne

    1. So ein bisschen Langeweile ist ja ganz entspannend und so selten, dass sie schon erstrebenswert erscheint. Aber mit dem Input hast du vollkommen recht, den braucht es immer wieder, am besten in völlig unterschiedlicher Form.
      Liebe Grüße
      Vanessa

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